Das Handeln der dritten Art
Wie im letzten Teil des Buches ausführlich dargestellt wurde, ist der Schlüssel zur Überwindung von Grenzen, ins Handeln zu gehen, wo man das normalerweise nicht tun würde. (Das ist übrigens wieder die Entkopplung des Verhaltens von der Situation.)
Aber es ist nicht irgendein Handeln. Es ist ein Handeln, das ich das Handeln der 3. Art nenne.
Warum gerade der 3. Art? Hat es etwas mit Begegnungen der 3. Art zu tun?
Nicht direkt. Vielmehr gibt es auch ein Handeln der 1. und 2. Art.
- Das Handeln der 1. Art ist ein Handeln so wie man gerade Lust hat: inneren Handlungsimpulsen, der Freude und der Lust folgend. Es ist die ideale Wunschform des Handelns. So könnte man immer handeln, wenn es nicht diese doofen Begrenzungen gäbe. Bei diesem Handeln ist das Verhalten an die Situation gekoppelt: Ist die Situation passend, wird gehandelt, falls nicht, lässt man es eben bleiben.
- Das Handeln der 2. Art bedeutet, sich zu etwas zu zwingen. Das ist ein deutlicher Fortschritt gegenüber dem Handeln der 1. Art, denn es erweitert den Handlungsspielraum. Allerdings ist die Kopplung des Verhaltens an die Situation noch nicht aufgehoben. Sich zu etwas zu zwingen bedeutet, die Situation gewaltsam passend hinzubiegen: Man beginnt zu handeln in einer Situation, in der sich das Handeln normalerweise nicht natürlich ergeben würde, aber entweder führt man einen gewaltsamen Wechsel der inneren emotionalen Situation herbei oder man unterdrückt die Gefühle, die dabei hochkommen wollen. Ein Beispiel wäre, sich morgens zum Joggen zu zwingen. (Daran ist im Übrigen nicht das geringste auszusetzen und es ist definitiv besser, als immer nur auf der Couch fernzusehen.)
- Das Handeln der dritten Art nun löst die Kopplung zwischen Situation und Verhalten: In einer Situation, in der man normalerweise nie handeln würde (z.B weil es so sinnlos erscheint), geht man dennoch ins Handeln. Gleichzeitig aber öffnet man sich der Situation und allen Gefühlen und Wahrnehmungen, die das auf den Plan ruft. Das ist insofern paradox, als nun der Reflex doch nicht zu handeln bzw. das Handeln wieder einzustellen, erst recht stark wird. Das tut man aber nicht. Man handelt weiter, während man sich soweit es geht für die damit verbundene Erfahrung öffnet. Diese Art des Handelns erfordert keinerlei Anstrengungen. Sie erfordert lediglich die Bereitschaft, sich mit bestimmten Erfahrungen zu konfrontieren.
Da das ein sehr wichtiger Gedanke ist, möchte ich ihn noch einmal herausstellen:
Das Handeln der 3. Art erfordert keinerlei Anstrengungen, sondern die Bereitschaft, sich mit bestimmten Gefühlen, Situationen, Erfahrungen zu konfrontieren und sich dafür zu öffnen.
Machen wir dazu ein Beispiel: Ich habe auf diese Weise meinen Morgenekel überwunden:
Kennen Sie das? Man wacht morgens auf, schlägt die Augen auf und es packt einen das blanke Grauen: Schon wieder so ein einförmiger Tag mit dem gleichen langweiligen Ablauf, unzähligen lästigen Pflichten, Null-Abwechslung und nichts darin, worauf man sich freuen kann. Da hilft eigentlich nur eins: Augen schnell wieder zu, Bettdecke weit über den Kopf gezogen und Bewusstsein möglichst ganz ausschalten.
Das wäre das Handeln der 1. Art.
Das Handeln der 2. Art geht so (wie ich es mal in einem Buch las):
Man springt aus dem Bett, klatscht in die Hände, spannt alle Muskeln an und schreit "Heute ist ein wunderschöner Tag" obwohl man genau weiß, dass das eine verdammte Lüge ist.
Das Handeln der 3. Art geht so:
Zunächst mal die Augen wieder aufschlagen und ihn sich anschauen diesen Tag. Den ganzen Ekel und die ganze Abneigung kommen und auf sich wirken lassen.
Und dann ganz langsam beginnen, aus dem Bett zu steigen - wirklich in Zeitlupe.
Die Langsamkeit des Handelns ist bei diesem Handeln zumindest am Anfang ein sehr wichtiges Element, weil es dann leichter ist, sich der damit verbundenen Erfahrung wirklich zu öffnen.
Denn das ist ja der Witz dabei: Während man zu handeln beginnt, verstärken sich die Empfindungen gleichzeitig, die normalerweise dazu führen würden, dass das Handeln gleich wieder eingestellt wird.
Aber genau diesen Empfindungen öffnet man sich auch noch.
Ich gebe zu, das klingt sehr selbstquälerisch. Aber das klingt nur deswegen so, weil es so normal erscheint, Erfahrungen zu unterdrücken, zu überspielen oder sonstwie zu manipulieren.
Tatsächlich ist aber das, was man auf diese Weise erlebt, die Erfahrung des Alltags, so wie sie im Moment verwirklicht ist. Man schaut sie nur nie direkt an. Man rettet sich irgendwie aus dem Bett zum ersten Kaffee und hangelt sich dann über kleine Aufputscher durch bis man abends vor dem Fernseher angekommen ist.
Dass man sie nie direkt anschaut, hat aber die Kehrseite, das die Erfahrung bleibt. Sie geht erst, wenn sie durchlebt wird und ihre Erkenntnisse dabei auch freigeben kann.
Das Faszinierende ist an diesem Beispiel - wenn man es konsequent eine Weile tut - wie sich Wirkungen und neue Möglichkeiten ergeben - wie sie sich teilweise ganz unauffällig einschleichen und man nach einer Weile völlig erstaunt feststellt, dass der Morgenekel gar nicht mehr da ist.