Gefühle I
Die Psyche besitzt eine Art Selbstreinigungssystem, ähnlich dem Immunsystem des Körpers. Dieses System spürt im Glaubenssystem Störfaktoren auf und transportiert sie nach oben ins Bewusstsein, damit sie dort angeschaut, überprüft und geändert, angepasst, verworfen oder auch bekräftigt werden.
Die Störfaktoren sind Ideen, welche der Entfaltung des Geistes im Wege stehen.
Es sind entweder Ideen, welche die Entfaltung direkt blockieren (Grenzen) oder Ideen, welche die Energien des Geistes anderweitig binden (Probleme), so dass sie für die Entfaltung nicht mehr zur Verfügung stehen.
Die Gefühle sind der Stoff, aus dem das Selbstreinigungssystem der Psyche gemacht ist.
Gefühle transportieren Ideen. Gefühle sind die emotionale Entsprechung von Ideen. Gefühle sind die Übersetzung von Ideen ins emotionale System. Sie sind die Reaktion der Psyche auf Ideen.
In dieser Sicht werden Gefühle zum Beispiel klar unterschieden von Körper-Empfindungen, wie z.B. Schmerzen.
Das ist auch der Grund, warum ich in diesem Buch ausdrücklich und häufig den Begriff sich einer Erfahrung öffnen verwende. Eine Erfahrung ist umfassender und die Erfahrung ist für die Öffnung das Wesentliche.
Denn die Erfahrung umfasst Wahrnehmungen, Körper-Empfindungen, Situationen und Ideen - aber eben auch Gefühle.
Die Gefühle sind aufs Engste mit all dem verbunden: mit Wahrnehmungen, Situationen, Körper-Empfindungen und Ideen.
Sich einer Erfahrung zu öffnen heißt unter Umständen auch, richtig hinzuschauen, sich in eine Situation hineinzutrauen, einen körperlichen Schmerz zuzulassen.
Sich Gefühlen zu öffnen und Gefühle fließen zu lassen ist ein wesentlicher Teil der Öffnung für Erfahrungen.
Es kann sein, dass sich eine Erfahrung nur als Gefühl verwirklicht. Das ist ein Spezialfall bzw. auch kennzeichnend für das frühe Stadium des Verwirklichungsprozesses.
Gefühle bewegen sich normalerweise. Sie drängen nach oben ins Bewusstsein.
Positive Gefühle sind verbunden mit Ideen, welche der Entfaltung dienen, negative Gefühle sind verbunden mit Ideen, welche die Entfaltung einschränken.
Wenn man die Idee einer Erfahrung entschlüsseln möchte, dann ist das Gefühl der Schlüssel dazu.
Gefühle bewegen sich ganz von alleine. Sich einem Gefühl zu öffnen ist ein vollkommen passiver Vorgang. Er ist so passiv, wie es passiver gar nicht geht. Es ist nur Öffnung, sonst nichts. Die Gefühle kommen von alleine. Wenn man sich öffnet und es passiert nicht, wovon man wollte, dass es passiert, dann ist es eben so.
Es braucht auch keinerlei Methoden, Visualisierungen, komplizierte Verfahren, Mittelchen oder sonstige Psychotricks. Absolut nichts von alledem.
Warum sage ich das?
Negative Gefühle lösen instinktiv die Schlussfolgerung aus "Hier stimmt was nicht."
Diese Schlussfolgerung aber wird nahezu immer übersetzt in "Ich muss etwas unternehmen", denn "sonst passiert ja nichts".
Wenn man nicht sofort etwas tut, dann bleibt der Missstand, auf den das negative Gefühl hinweist - so denkt man.
Und das ist ein Irrtum.
Die schnelle Reaktion auf ein negatives Gefühl ist das Handeln in der Ego-Ebene, wo es aber im Falle eines negativen Gefühls nicht hingehört.
Die eigentliche Aufgabenverteilung ist die:
Dem Gefühl öffnet man sich und man lässt es sich bewegen oder auch nicht bewegen, wie es eben will. Auf Ego-Ebene muss ins Glaubenssystem geschaut werden, so wie es sich eben zeigt. Und da sind ggf. neue Entscheidungen nötig.
Gehandelt wiederum wird - falls es überhaupt notwendig ist, denn oft ist es das auch gar nicht - also gehandelt wird auf Grund von Möglichkeiten. Die Möglichkeiten tauchen im Verlauf des Prozesses auf, z.B. durch Entscheidungen über das Glaubenssystem.
Und das ist so wichtig, diesen Unterschied zu verstehen, ob ein Handeln durch ein negatives Gefühl getrieben oder durch eine Möglichkeit ausgelöst wird. Das unterscheiden zu lernen ist Teil des Prozesses, den ich geistige Differenzierung nenne, bei dem man innere Vorgänge immer besser sehen, unterscheiden und verstehen lernt.
Aber der Reaktionszwang auf negative Gefühle ist eben auch erst mal da. Er löst sich Schicht um Schicht und nach und nach, je mehr man sich dem Kern seines Glaubenssystems im Prozess der Erkenntnis nähert, wo die ganz grundlegenden Annahmen über das Ich und die Welt sitzen.
Ich selbst habe lange Zeit den Fehler gemacht, dass ich negative Gefühle - nachdem ich mehrmals die erstaunliche Erfahrung ihrer Auflösung gemacht hatte - als eine Art Zauber-Wunderwaffe angesehen habe: "Wo ist das nächste negative Gefühl, mit dem sich erstaunliche Wirkungen erzielen lassen?"
Ich begann sie zu forcieren, zu verstärken, draufzudrücken, zu beschleunigen und zu provozieren.
So geht das aber nicht - wie ich leider feststellen musste.
Und negative Gefühle kommen ja nur mit Begrenzungen einher. Wenn keine Begrenzungen da sind, sind auch keine negativen Gefühle da. Dann muss man ohne sie auskommen. Gar nicht so einfach! (Kleiner Scherz)
In einer Situation, wo etwas nicht geht, es einfach nur ohne absolut jede Reaktion so stehenzulassen, dass es nicht geht und sich nur dafür zu öffnen - das ist nicht einfach. Wenn das ein richtig großes negatives Gefühl auf den Plan ruft - ja dann erledigt das große negative Gefühl die Arbeit - so dachte ich. Aber wenn ganz einfach gar nichts passiert, außer dass es nicht geht - dann nicht zu reagieren, das ist die Kunst.
Es öffnet den Kanal nach innen. Das Problem erreicht dann die inneren Teile der Psyche, wo es gelöst werden kann.
Ich war auch lange Zeit dem Irrtum aufgesessen, dass die Gefühle die Arbeit erledigen und die Wirkungen erzielen. So ist es aber nicht. Die Gefühle transportieren die Ideen nach oben und dann können neue Entscheidungen getroffen werden. Dadurch eröffnen sich neue Wege und Möglichkeiten. Die müssen dann aber auch wahrgenommen werden durch Handeln oder Verhaltensänderungen.
Selbst wenn man mit einem Gefühl soweit ist, dass man nicht mehr darauf reagieren muss, bleibt es dennoch häufig zunächst so, dass das Gefühl weiterhin die Aufmerksamkeit bindet. Die Bindung der Aufmerksamkeit an das Gefühl ist der letzte Rest von darauf reagieren müssen. Man glaubt, die Aufmerksamkeit nicht einfach von dem Gefühl abziehen zu können, weil dann ja nichts passiert.
Das ist die irrtümliche Annahme, dass man mit einem negativen Gefühl doch irgendetwas tun muss, damit es weggeht. Und das stimmt nicht.
In dem Moment, wo man das erkennt, kann man mit der Aufmerksamkeit das Gefühl loslassen. Die Aufmerksamkeit wird frei für andere Dinge und das Gefühl verliert den Rest seines Schreckens, den es vielleicht mal hatte. Es ist plötzlich ganz handlich und beweglich und schränkt nicht mehr ein.
Man kann gleichzeitig die Aufmerksamkeit von einem Gefühl abziehen und es dennoch nicht blockieren oder unterdrücken. Das ist kein Widerspruch.
Dieser Prozess wiederholt sich wieder und wieder auf den verschiedensten Ebenen der Entwicklung.
Es löst sich in diesem Prozess die Identifizierung des Ich mit dem Gefühl. Ich und Gefühl werden jedes für sich selbstständig beweglich, während sie vorher zwanghaft verbunden waren.
Es ist ein schrittweiser Prozess. Man braucht sich keine Vorwürfe machen, wenn man nicht gleich sämtliche Reaktionen auf ein Gefühl einstellen oder die Aufmerksamkeit komplett anderen Dingen zuwenden kann.
Sich von einem Gefühl zu lösen kann bestimmte Verhaltensänderungen einschließen. Das hängt davon ab, worin genau die Reaktion auf ein Gefühl bestand:
- Manche Gefühle lösen sich, indem man sich total entspannt, sich dazu vielleicht auch hinlegt und dann alle Muskeln entspannt, geistig alles loslässt, um dann das Gefühl ganz hochkommen zu lassen. Das sind Gefühle, auf die man mit ständiger Anspannung reagiert.
- Andere Gefühle wiederum lösen sich, indem man sich nicht weiter um sie kümmert und einfach in der Tagesordnung weitergeht.
Man kann hier ruhig ein bisschen offen und locker herumexperimentieren. Wenn eine Sache nicht funktioniert, probiert man einfach mal was anderes.
Ein negatives Gefühl löst häufig den Impuls aus "Ich habe etwas falsch gemacht. Ich muss etwas ändern." Es ist aber absolut kein Widerspruch, mit fortschreitender Entwicklung mit stärkeren negativen Gefühlen oder sogar mit einer Depression konfrontiert zu werden. Das muss nicht heißen, etwas falsch gemacht zu haben. Es handelt sich dabei ganz einfach um Gefühle, die vorher blockiert, unterdrückt und überspielt waren. Diese Gefühle kommen zum Vorschein, während sich Schicht um Schicht blockierter Gefühle vom Kern der Persönlichkeit ablöst und in Bewegung setzt. Es sind die Gefühle, die mit den ganz zentralen negativen Ansichten des Glaubenssystems verbunden sind wie:
- Ich bin nichts wert.
- Niemand liebt mich.
- Ich mache immer alles falsch.
- Ich bringe nichts zustande.
- Niemand interessiert sich für das, was ich tue.
- Es hat doch alles keinen Sinn.
- Ich bin so negativ.
- Mein Leben ist so trostlos.
usw. Dass diese Gefühle und Ideen sich nun zeigen ist natürlich die Voraussetzung dafür, sich überhaupt mit ihnen auseinandersetzen und neue Entscheidungen treffen zu können.
Und es ist auch kein Problem, dass diese Gefühle da sind, da ja das Handeln von der emotionalen Situation zunehmend entkoppelt wird. Man ist nicht mehr auf gute Laune und Motivation angewiesen, um das anzugehen, was wirklich wichtig ist. Und während man ganz unabhängig von der Gefühlssituation einfach tut was man will, verlieren die Gefühle ihre Bedeutung und eines Tages stellt man ganz überrascht fest, dass sie schon lange nicht mehr da waren.