Sitz gerade!
Als ich ein kleiner schnell wachsender Junge war, sah man ein besonderes Problem in meiner Wirbelsäule, weil man der Meinung war, Wirbelsäulen könnten nicht so schnell wachsen wie schnellwachsende kleine Jungs oder vielleicht war es auch umgekehrt und die Wirbelsäule wuchs schneller als ich - ich weiß das nicht mehr so genau.
Tatsache war, dass wohlmeinende Menschen in meiner Umgebung sehr darauf bedacht waren, mir trotz derart widriger Umstände ein sorgenfreies Leben zu ermöglichen. Und deshalb mahnten sie mich bei jeder Gelegenheit "Sitz gerade!", "Sonst bekommst du Rückenprobleme.".
Dass ich in "Betragen" nie eine 1 hatte, lag wohl eher daran, dass Jungen aus Prinzip in Betragen keine Einsen bekommen konnten als an mir, denn von meinem bewussten Verstand her mühte ich mich bis zum Umfallen, allen von außen an mich herangetragenen Anforderungen in vorbildlicher Weise gerecht zu werden.
So auch wenn wieder einmal die Aufforderung ertönte "Sitz gerade!" oder "Lümmel nicht so herum!". (Als würde das noch nicht genügen, kam später auch noch ein "Geh gerade!" hinzu.)
In der Folge versuchte ich möglichst oft daran zu denken und stellte zu meinem Erschrecken fest, dass mein Körper von alleine so gut wie nie gerade dasaß (und auch nicht gerade ging). Um alles musste man sich selber kümmern!
Ich setzte mich also, immer wenn ich daran dachte, möglichst aufrecht hin. Das war Scheiß-unbequem. Egal, ich tat es trotzdem.
Leider hielt es meistens nicht lange vor.
(Kennen Sie eigentlich auch den Effekt, dass alle bequemen Sitzhaltungen falsche Sitzhaltungen sind?)
Tatsache ist, dass meine Versuche gerade zu sitzen einen der aussichtslosesten Kämpfe meines Lebens darstellen, der haushoch verloren wurde. Und eines können Sie mir gerne glauben: Wenn ich mich um etwas bemühe, dann tue ich es gründlich. Trotzdem, es hatte keinen Zweck.
Als ich alt genug war, den "Sitz Gerade"-Aufforderungen zu entkommen, ging es aber weiter: Rückenschule, Krankengymnastik, Gesundheitsbroschüren zum Thema Rücken, spezielles Krafttraining im speziellen Fitnessstudio (endlich mal ein Wort mit drei gleichen Buchstaben hintereinander), sogar Rückengymnastik direkt am Arbeitsplatz. Der Kampf gegen die Nachlässigkeit des körpereigenen Verhaltens durfte nicht ruhen.
Zum Glück bin ich dabei nicht allein. Die Initiative "Rettet die Wirbelsäule" ist eine ganze Volksbewegung.
Und die Praxis zeigt, dass man das Problem gar nicht ernst genug nehmen kann: Bandscheibenvorfälle, wohin man schaut und wer keine Rückenschmerzen hat, nimmt wahrscheinlich Schmerztabletten.
(Liebe Krankenkassen-Monatszeitschrift-Redakteure! Dieser Text ist ironisch. Als Zitate-Quelle für die nächste Gesundheitskampagne nicht geeignet!)
Folgende Fragen möchte ich an dieser Stelle dennoch aufwerfen:
Sind Rückenkrankheiten deswegen so verbreitet, weil wir uns noch nicht genügend anstrengen?
Oder sind sie es gerade weil wir uns so sehr anstrengen?
Oder ist der Mensch ganz einfach degeneriert und mit einem Körper ausgestattet, der den harten Anforderungen des Erdenlebens nicht gerecht wird?